Von Dominik Straub in Hannoversche Allgemeine Zeitung 1.8.2018

Auf den Plantagen Süditaliens, wo Obst und Gemüse für den EU-Markt wachsen, schuften Migranten unter unmenschlichen Bedingungen. Die Politik will sich nicht mit Mafia und Fabrikanten anlegen, die Einheimischen machen die Afrikaner für ihre eigene Armut verantwortlich. Ein Besuch im Getto von San Ferdinando, dem größten Slum Europas.

Drame Madiheri rattert die Eckdaten ohne Luftholen herunter: neun bis 14 Stunden Feldarbeit, in der Erntezeit sieben Tage die Woche; 50 Kilo Gewicht je von Hand gefüllter Obstkiste; 25 Euro Lohn – in der Woche.

Von diesem Lohn für die Plackerei kann er sich leisten: einen behelfsmäßig zusammengezimmerten Verschlag aus Brettern und rostigen Wellblechen; ohne Trinkwasser, Strom oder Toilette; mit unbefestigten Wegen, die sich bei Regen in Schlammbäche verwandeln, zwischen seiner Hütte und den Hütten der Nachbarn.

Drame Madiheri lebt im größten Slum Europas. Im Land, wo die Zi­tronen blühen. Wortwörtlich: an der Stiefelspitze Italiens, in der Ebene von Gioia Tauro in Kalabrien, einem der wichtigsten italienischen Anbaugebiete für Zi­trusfrüchte. Orangen, Kiwis, Mandarinen, Zitronen, aber auch Kartoffeln und Gemüse wachsen hier. Die Kartoffeln sind auf mitteleuropäischen Wochenmärkten ganz besonders beliebt. Obwohl sie in einer Art moderner Sklaverei produziert werden.

Zwischen San Ferdinando und dem etwas größeren Rosarno liegt „baraccopoli“, die Barackenstadt der Feldarbeiter. Ein Migrantengetto, in dem zur Erntezeit zwischen Dezember und März rund 3500 Menschen leben und in der Zwischenzeit nur unwesentlich weniger. Seit Jahren.

Die meisten der Bewohner stammen aus Afrika, wie der 38-jährige Drame Madiheri, der vor dem Krieg in Mali geflohen ist; praktisch alle arbeiten auf den rund 400 Plantagen der Ebene als Erntehelfer – in einem ausgeklügelten System der Ausbeutung, der Erpressung und der Fremdenfeindlichkeit.

Die Ebene von Gioia Tauro ist nämlich auch eine Hochburg der ’Ndrangheta, der gefährlichsten Mafia-Organisation Italiens. Sie verdient an den Erntesklaven kräftig mit: Zum einen fordern ihre Arbeitsvermittler, die sogenannten caporali, für ihre Dienste bei den Migranten eine saftige Kommission. Zum anderen befinden sich etliche Plantagen im Besitz der Mafia oder ihrer Strohmänner – und die anderen bezahlen Schutzgeld. Auch der Transport und der Handel mit den Zitrusfrüchten wird teilweise von der ’Ndrangheta kontrolliert.

„Hier treffen alle Übel der Moderne zusammen: Armut, Flucht, Ausgrenzung, Ausbeutung, Mafia“, sagt die Anthropologin Chiara Tommasello aus Reggio Calabria. Sie hat die Zustände im Lager von San Ferdinando vor Ort studiert. Zum ersten Mal nach dem Aufstand im Jahr 2010: Damals hatten die Mi­granten gegen ihre unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen revoltiert – und anschließend hatten mehrere Hundert Einwohner der Kleinstadt, angestachelt von den ’Ndrangheta-Clans, Treibjagden auf die Afrikaner veranstaltet. Es gab Dutzende Verletzte. „Die Zustände in der Barackenstadt haben sich seit dem Aufstand nicht verbessert, im Gegenteil“, sagt Chiara Tommasello heute.

Die Stimmung gegenüber den Mi­granten ist eher noch feindseliger geworden in Rosarno und in San Ferdinando. Anfang des Jahres wurde eine Bande Jugendlicher festgenommen, die Erntehelfer mit Luftgewehren beschossen und mit Schlagstöcken verprügelt hatten. Am 2. Juni wurde Soumaila Sacko, wie Drame Madiheri aus Mali geflohen, von einer Kugel in den Kopf getroffen, als er in einer verlassenen Fabrik nach Baumaterial für seine Baracke suchte. Als mutmaßlicher Täter wurde einige Tage später ein Einheimischer verhaftet.

Wie Drame Madiheri war Soumaila Mitglied der Basisgewerkschaft USB, die sich für die Rechte der Migranten einsetzt. Was viele Einheimische noch mehr erzürnt.

Die rassistischen Aggressionen würden oft mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen Kalabriens entschuldigt, sagt Chiara Tommasello: „Die Leute fühlen sich hier – objektiv nicht zu Unrecht – vom italienischen Staat vernachlässigt, benachteiligt, vergessen.“ In Bezug auf die Gewalt und Diskriminierung gegenüber den Migranten sei dies eine Ausrede – aber für die Rechtspopulisten sei es angesichts der objektiven Probleme Kalabriens ein Leichtes, die Migranten für alle Übel verantwortlich und Stimmung gegen sie zu machen.

Verantwortlich gemacht werden die Migranten insbesondere für den Verfall der Löhne der einheimischen Landarbeiter und Erntehelfer. „Schon in den ersten Tagen nach meiner Wahl kamen die italienischen Landarbeiter zu mir und beklagten sich, dass sich seit der Ankunft der Migranten ihre Löhne halbiert hätten“, sagt der frühere kommunistische Bürgermeister von Rosarno, Giuseppe Lavorato. Der Lohnverfall sei zwar eine Tatsache, doch das wahre Problem sei der Zusammenbruch der Orangen- und Mandarinenpreise im Zuge der Globalisierung gewesen. „Selbst diejenigen Plantagenbesitzer, die es gewollt hätten, konnten keine höheren Löhne mehr bezahlen. Ohne die Mi­granten wären die Orangen an den Bäumen verfault“, betont Lavorato. Der 80-Jährige spricht von einem „Krieg der Armen“ – einem „Krieg der verarmten einheimischen Landbevölkerung gegen die noch ärmeren Migranten“.

Heute erhält ein kalabrischer Orangenproduzent nur 6 bis 7 Cent für ein Kilo – ungefähr so viel kosten auch die Orangen, die aus Nordafrika und Brasilien importiert werden. Den offiziellen Tariflohn von 45 bis 50 Euro pro Tag und reguläre Arbeitsverträge kann sich bei diesen Preisen kein Betrieb mehr leisten. Dem Journalisten und Buchautor Antonello Mangano zufolge, der zahlreiche Recherchen zur modernen Sklaverei in Süditalien publiziert hat, sind es heute vor allem die Großverteiler in den Ländern nördlich Italiens, die eine große Marktmacht hätten und massiv die Preise drückten.

Doch an diese Großverteiler oder die Mafia traut sich kein Kritiker heran, weder in der Politik noch in San Ferdinando. Da sind die Migranten als Sündenböcke ausgemacht, die Fremden, die Schwächsten.

Immer wieder sterben Landarbeiter an Erschöpfung oder an Infektionskrankheiten, sie werden von Traktoren überfahren oder nehmen sich aus Verzweiflung das Leben. Die Hilfsorganisation Ärzte für Menschenrechte (Medu), die in Rosarno einen Stützpunkt unterhält, bezeichnet die sozialen und hygienischen Zustände und die Arbeitsbedingungen als „dramatisch“.

Für Leute wie Drame Madiheri ist San Ferdinando trotzdem die einzige Überlebenschance.

Vor fünf Jahren ist er auf einem Flüchtlingsboot auf Lampedusa gelandet und von dort auf das italienische Festland gebracht worden. „In Mali arbeitete ich 15 Jahre lang für eine französische Firma als Chauffeur. Dann kam der Krieg, und ich flüchtete nach Libyen.“ In Libyen habe er als Ziegenhirt gearbeitet – bis ihm eine von 160 Ziegen abhandenkam und der Chef ihn des Diebstahls bezichtigte. Der Chef habe ihm nach dem Leben getrachtet; ein Freund habe ihm die Überfahrt nach Europa organisiert. Seit 2016 lebt Drame im Slum von San Ferdinando. Sein Asylgesuch in Italien ist abgelehnt worden. Nun wartet er auf den endgültigen Bescheid.

Wie der Malier verfügen 80 Prozent der Erntesklaven von San Ferdinando über eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung. Trotzdem werden die meisten entweder schwarz oder mit gefälschten Arbeitsverträgen angestellt. Sie sind den Plantagenbesitzern und deren Helfern, den caporali, ausgeliefert.

„Wenn die Migranten die Bedingungen nicht akzeptieren, dann erhalten sie keine Arbeit. Und ohne Arbeit droht ihnen der Verlust der Aufenthaltsbewilligung“, sagt Aboubakar Soumahoro, einer der Gewerkschaftsführer. „Die Verträge werden zu einem Mittel der Erpressung, das die systematische Ausbeutung und Entrechtung der Arbeiter erst ermöglicht.“ Staatliche Kontrollen seien viel zu sporadisch – und oft werde nur kontrolliert, ob die Aufenthaltsgenehmigung der Migranten in Ordnung sei.

Tatsächlich rührt der Staat seit Jahren praktisch keinen Finger, um die skandalöse Situation der Erntesklaven zu verbessern. Zwar hat das Innenministerium im vergangenen August bereits zum dritten Mal ein kleines Zeltlager errichten lassen. In diesem haben aber nur 500 Personen Platz gefunden, 3000 blieben außen vor. Inzwischen sind die Zelte und Container völlig heruntergekommen. „In den Erdbebengebieten sind die Zeltstädte eine vorübergehende Notmaßnahme. Bei uns ist die Notlage ein Dauerzustand“, sagt Drame Madiheri. „Wir würden gerne Wohnungen mieten, in dieser Misere wohnt niemand gerne.“ Tatsächlich stehen in der Gegend Zehntausende Wohnungen leer. „Es gäbe Platz für alle. Aber die Einheimischen wollen uns Schwarzen die Wohnungen nicht geben. Oder sie verlangen 600 Euro im Monat – das kann sich hier niemand leisten.“

Vom Staat haben die Erntesklaven keine Hilfe zu erwarten. Im Juli hat der neue rechtspopulistische Innenminister Matteo Salvini das Lager, begleitet von einem Tross von Kameraleuten, für einige Minuten besucht – um den Mi­granten mitzuteilen, dass für ihn die armen Italiener an erster Stelle stehen. Seine Haltung zu Flüchtlingen und Mi­granten hatte er nach seiner Vereidigung zum Innenminister so beschrieben: „Das süße Leben ist vorbei.“

Das süße Leben hat es für Leute wie Drame Madiheri nie gegeben.

Das ist ein Krieg der
verarmten Einheimischen gegen die noch
ärmeren
Migranten.

Giuseppe Lavorato, ehemaliger Bürgermeister von Rosarno